Vor ziemlich genau vier Jahren habe ich hier im Blog meine Geschichte als schwuler Absolute Beginner veröffentlicht und mit mehreren engen Freunden geteilt. Einer davon arbeitete in einer Zeitschriftenredaktion und so kam es, dass ich im November 2016 Deutschlands größter Schwulenzeitschrift ein Interview gegeben habe (wobei der mich befragende Redakteur mein Problem wohl nicht verstanden hat). Meine Geschichte war plötzlich nachzulesen. Ich habe abgewartet, ob irgend etwas passiert. Ob vielleicht die Medien das Thema aufnehmen, ich zufällig meinen Traummann kennenlerne oder ich einfach eines Tages aufwache und kein AB mehr bin. Und irgendwie versucht, mein Leben weiterzuleben.
Die große Medienlawine ist ausgeblieben. Auf meinen Bericht hier im Blog hin haben sich allerdings tatsächlich mehrere Gleichgesinnte gemeldet. Einige haben Kommentare unter meinem Bericht hinterlassen, andere haben direkt Maja Roedenbeck Schäfer (die Betreiberin dieses Blogs) angeschrieben und um Kontakt zu mir gebeten. Mit manchen Leuten habe ich dann Mails getauscht. Einige wollten mir einfach ihre Geschichte erzählen und es war schön, zu spüren, dass man nicht alleine ist. Zwei wollten sich direkt mit mir treffen, ohne mir irgendwas von sich selbst zu verraten (und froren den Kontakt ein, als ich dann Rückfragen gestellt habe). Und noch etwas geschah: im Frühjahr 2017 kam eine Nachricht, die mein Leben umgeworfen hat.
Ich war gerade auf dem Weg zum Frisör, da brummte mein Postfach. Aus dem tiefsten Westen der Republik meldete sich ein David bei mir. Etwas älter, beruflich etwas weiter, etwas weltmännischer als ich. Ansonsten ähnelte seine Lebensgeschichte der meinigen so erschreckend, dass ich erst mal nach einer versteckten Kamera gesucht habe, weil ich das alles nicht glauben konnte. Auch er war in Schulzeiten eher ein Außenseiter, vergleichbar sensibel wie ich, hatte sich seine Sexualität irgendwann (und eigentlich viel zu spät) eingestanden und es dann zeit seines Lebens nicht geschafft, etwas daraus zu machen. Er lebte vor sich hin, ohne zufrieden zu sein, nur anders als ich hatte er die Lücken in seinem Leben mit einem sehr fordernden Beruf zu füllen versucht. Er war schüchterner als ich (sodass ich über viele Nachrichten und vorsichtige Rückfragen erst Vertrauen aufbauen musste) und zugleich merkte ich, dass in ihm immer mehr ein Damm brach und es sich tief in ihm danach sehnte, einfach mal mit jemandem reden zu können. So schrieben wir uns dutzende lange Nachrichten. Diese Monate im Frühling 2017 waren eine der schönsten Zeiten meines Lebens: Wenn eine neue Nachricht kam, musste ich in meiner Kanzlei einen Vorwand suchen, meine Arbeit beiseite zu legen, um diese sofort lesen und auch sofort beantworten zu können. Am Wochenende blieb ich manchmal bis in die frühen Morgenstunden wach, weil ich ahnte, dass noch eine Nachricht kommen könnte. Und sie kam. Ich sog alles in mich auf. Wir schrieben über unser Leben, über uns selbst, ich stellte Fragen, er auch. Er öffnete sich immer mehr. Und er wuchs über sich hinaus, outete sich (endlich) bei mehreren Freunden und erzählte mir am Abend begeistert davon. Ohne dass wir uns jemals gesehen hätten, waren wir uns näher, als ich mich jemals einem Menschen gefühlt hatte. Mit diesem Status war ich erst einmal recht zufrieden. Er nicht. Er, der Schüchterne, der Menschenscheue, traute sich noch etwas mehr: Ich will dich kennenlernen.
Ich habe es im Nachhinein vermieden nachzufragen, was genau seine Motivation war. Es ging es ihm wohl darum, den Kontakt zu intensivieren und noch einfacher, noch intimer Fragen stellen und mit mir reden zu können. Ich hatte schon handfestere Gedanken: Ein Mann, fast so alt wie du, so viele übereinstimmende Interessen und – ganz wichtig – sexuell nicht erfahrener als du. Mit dem könnte doch eine ganze Menge möglich sein. Und sei es, dass wir uns gegenseitig dabei helfen, dass wir am Ende keine Anfänger mehr sind. Als er mir dann ein Fotos von sich schickte (mich hatte er auf der Homepage meiner Kanzlei längst ergoogelt), hatte ich mich entschieden: Nicht dein Traumprinz, aber brauchbar. Sehr brauchbar. Diesen Mann willst du haben, sagte ich mir eiskalt.
Es war dann filmreif, als wir uns auf dem Aachener Hauptbahnhof zum ersten Mal sahen. An zwei entgegengesetzten Bahnsteigenden und wegen unserer Köprergröße unter all den kleinen Aachenern doch sofort zu erkennen. Ich stieg aus dem Zug, er bot mir direkt eine freundschaftliche Umarmung an und alle Vorstellungen, alle Erwartungen lösten sich auf: Da stand ein echter Mensch vor mir. Etwas verklemmt, schüchtern und um Worte ringend, unauffällig gekleidet und dankbar meine Gesprächsthemen annehmend, nur um dann plötzlich wieder in der Lage, in den beruflichen Profi-Modus zu schalten und eiskalt zu verhandeln (er arbeitet im internationalen Großeinkauf und verhandelt auch mal in China oder Indien). Und dieser Mensch, den ich dachte, erobern zu können, erzählte mir von Hotels und Jogging-Strecken bei Geschäftsreisen nach Australien und Übernachten am Flughafen. Ich konnte nicht einmal einen Urlaub in Übersee vorweisen. Meine Zuversicht wankte schnell. Dankbarer war es, wenn wir wieder über das sprachen, von dem wir beide nichts wussten: Liebe, Partnerschaft, Erwartungen an das Leben. Ich, der ich immerhin schon Menschen berührt hatte und berührt worden war, fühlte mich als Einäugiger unter den Blinden und versuchte mit diesem Wissen meine Souveränität wiederzuerlangen. Es ging viel um uns, aber nicht um ein Wir. Ich versuchte es direkter: Was er sich denn für einen Partner vorstelle, so rein hypothetisch. Einen großen, blonden, extrovertierten Mann, der ihn unter Leute bringt. Aha. Und was ich mir vorstellte? Einen großen introvertierten Mann, der besser organisiert ist und der mich erdet. Wir nahmen das beide zur Kenntnis. Ich weiß rückblickend nicht mehr, wie wir dabei so ernst bleiben konnten. Und dann geschah etwas Unerwartetes. Als er diskret die Restaurant-Rechnung bezahlte, verliebte ich mich. In seine Stimme. Auch sonst lief der Tag gut. Wir hatten uns etliche Stunden etwas zu erzählen und schon nach zweien davon machten wir aus, wann wir uns das nächste Mal sehen wollten. Er wollte auf ein Wochenende nach Berlin kommen, zu mir. Sprach schon von gemeinsamen Reisen. Ehe ich wieder in den Zug stieg, erbat ich mir noch ein Foto. Er erbat sich dann ebenfalls eins.
Dieses gemeinsame Wochenende in Berlin würde wichtig werden, dachte ich mir. So wollte ich die beste Version von mir präsentieren, die ich konnte. Ich nahm mir extra mehrere Tage frei um meine Wohnung aufzuräumen. Ecken, in die ich seit meinem Einzug nicht mehr geschaut hatte, räumte ich frei, wischte Staub wie ein Blöder. In all der Vorbereitung schaffte ich es dann nicht rechtzeitig zum Flughafen. Er, der Ausgeglichene und Organisierte, war schon da, lehnte entspannt an einer Wand. Sah mich an. Und in diesem Moment, als ich ihn da lehnen sah, verliebte ich mich auch in den ganzen Rest von ihm. Auf der langen Fahrt in meine Wohnung war es schwer, meine Finger bei mir zu behalten. Ich wollte diesen Menschen anfassen, erforschen, ihm nahe sein. Und ich wollte, dass es ihm genauso ging. Er bemühte sich indes um völlig unverfängliche Gesprächsthemen. Meine Wohnung schockierte ihn zumindest nicht. Wir redeten. Zweimal brach das Eis beinahe: Er liebte Popcorn und als meine Popcornmaschine im entscheidenden Moment kaputt ging, nahm ich sie in die Hand und schüttelte so lange, bis der Mais aufgegangen war. Das reichte für sein erstes richtiges Lachen. Und als ich das Abendessen machte und er in meiner kleinen Küche auf einem Küchenhocker saß und mir neugierig zusah, da fühlte sich das alles schon sehr, sehr gut an. Selbstverständlich. Und nach Popcorn, Essen und Wein geschah dann… nichts. Wir sahen einen seichten Spielfilm mit schwulem Inhalt und am Ende legte er sich in mein Gästebett. Ich blieb noch lange wach und dachte nach. Am nächsten, eiskalten Tag machten wir einen Spaziergang durch Berlin-Mitte und dank perfekter Frühlingssonne machte er immerhin ein Selfie von uns vor dem Brandenburger Tor. War das ein ganz zartes Bekenntnis zu einem „Wir“? Auf der Rückfahrt zum Flughafen Tegel mussten wir im randvollen Bus sehr dicht beieinanderstehen. Ich genoss es.
Die folgenden Wochen waren merkwürdig. Das Eis war etwas getaut, aber nicht gebrochen. Als wir telefonierten und noch einmal skypten, doch er erschien er mir kühl und zurückweisend. Während David für mich von einer Perspektive immer mehr zu einer Sehnsucht wurde, entwickelte er ganz neue, eigene Perspektiven: Ob wir uns nicht gegenseitig helfen wollten, jemanden kennenzulernen. Wir könnten doch „Sparringpartner“ werden und uns auch gegenseitig an das Sexuelle heranführen, sodass wir dann auf dem freien Markt nicht mehr so völlig unvermittelt wären. Wir könnten zusammen in eine Schwulenbar, das mache man wohl so, wenn man jemanden kennenlernen wolle. Zwei eiskalte Duschen auf einmal. Er entglitt mir, dachte ich. Da findest du einmal einen Menschen, mit dem so vieles übereinstimmt und du vergraulst ihn schon nach dem ersten Mal, dachte ich. Was tun? Ich schickte ihm Fotos von mir in eng sitzender Sportkleidung, nach dem Training, verschwitzt und maskulin. Er schickte mir Fotos von sich in schlecht sitzender und etwas biederer Sportkleidung zurück.
Dann kam der Gegenbesuch. Seine Wohnung am Aachener Stadtrand war modern, komfortabel und unpersönlich. Er hatte sich Jahre zuvor bewusst an einen unkommunikativen Vorort gepflanzt und verließ seine Wohnung praktisch nur über die Tiefgarage. ich war sein zweiter Gast in fünf Jahren. Immerhin war seine Küche brauchbar. Wir kochten also wieder zusammen, plauderten und setzten uns danach mit einer großen Packung Chips aufs Sofa. Jetzt musste etwas passieren. Unter zunehmender Unruhe ging ich im Kopf alles durch, was ich mir in den vorangegangenen Wochen an Sätzen bereitgelegt hatte, vor allem Einstiegsmöglichkeiten für ein Gespräch, das zu einem „Wir“ führen würde. Irgendwann streifte ich das Thema und David ließ die Katze aus dem Sack. Er eröffnete mir, dass er sich das momentan nicht vorstellen könne. Diplomatisch. Er sehe uns da im Moment nicht. Es fällt mir schwer, mich genau zu erinnern, wie er das begründet hat. Ich weiß auch nicht mehr genau, ob ich entsetzt, enttäuscht oder nach üblichem Muster erleichtert war, dass ich mich in meinem Leben auf nichts neues einstellen musste. Ich wollte auch nicht verhandeln. Stattdessen schaffte ich es aber irgendwie, folgenden Satz unterzubringen: „Ich wollte dich ja eigentlich fragen, ob ich dich mal berühren darf“. Erstaunlicherweise durfte ich. Und nachdem ich Davids Rücken gestreichelt hatte, durfte ich auch seinen Kopf kraulen. Und seine Hand halten. Und er durfte sich an mich schmiegen. Und er kommentierte all das mit einem sachlich-erfreuten „Schön“. Auf diese Weise entging ich irgendwie der Verlegenheit, Davids Gästebett kennenzulernen. An diesem Abend tat sich ein anderes Universum auf, nämlich das des Kuschelns und Schmusens. Wir berührten uns zwar auch intimer, aber irgendwie löste das wenig in uns aus. Uns im Arm zu halten, zu streicheln und zu liebkosen, Arme, Rücken, Kopf und Ohren, das war um so vieles größer und wichtiger und besser. Als wir dann in den frühen Morgenstunden doch noch versuchten, irgend etwas Richtung Sex zu machen, mussten wir frustriert feststellen, dass es uns nicht gelang. Auch am übermüdeten Folgetag wollten wir vor allem schmusen und alle Versuche in Richtung Intimität endeten frustriert. Ich vergleiche es im Nachhinein mit einem Computer, in den man zwar die richtige Hardware eingebaut hat, aber den Treiber vergessen hat.
Dieses Wochenende hatte zwei unmittelbare Konsequenzen. David, der mir am Frühstückstisch des Sonntags eröffnete, dass die wunderschönen beiden Tage jetzt natürlich trotzdem kein Auftakt zu einer Beziehung gewesen seien (er legte Wert auf diesen Standpunkt), da er sich selbst noch finden müsse und gar nicht wisse, wo sein Leben jetzt hingehe, erklärte ebenso entschieden, dass wir uns nun mindestens alle zwei Wochen sehen müssten. Mindestens jedes zweite Wochenende bis zum Sommer sollte nun besucht oder gegenbesucht werden; Planungen und Verbindungsdaten meines organisierten Großhändler-Nichtlovers folgten prompt. Er übernahm jetzt die Steuerung. Meine sonstigen Pläne für das kommende halbe Jahr konnte ich auf Eis legen und mir stattdessen überlegen, wo ich mit meinem Teilzeitgehalt denn das Geld für all die Fahrkarten, Verpflegungen und Vergnügungen auftreiben sollte. In den folgenden Tagen waren wir beide wie auf einem anderen Planeten. David wurde in seinem Unternehmen angesprochen, was denn los sei, so gelöst und positiv kenne man ihn sonst nicht. Und ich spürte noch tagelang sanfte Berührungen auf meiner Haut und hatte zugleich ein irres Verlangen, Menschen zu berühren und berührt zu werden. Dies führte zu einer fast peinlichen Situation mit meinem besten (Hetero-)Freund, dem ich natürlich alles vom Wochenende erzählen wollte, dem ich aber trotz der großen Nähe zwischen uns nicht so nah kommen durfte. Wirklichen Rat hatte niemand für mich. Mit einer solchen Situation kannte sich niemand aus.
Ich ging noch einmal in mich und dachte mir: Lebe Normalität. Genieße die gemeinsame Zeit und lass einfach mehr daraus werden. Immerhin bist du ihm mit dem Schwulsein drei Jahre voraus. Und so kam der zweite Gegenbesuch in Berlin, an dem wir miteinander kochten, endlich gemeinsam (nackt) in meinem Bett schliefen und sich alles, wirklich alles so anfühlte wie eine Beziehung (nur nach wie vor ohne Sex). Ich brachte Kaffee ans Bett und er mir auch, ich machte heimlich Fotos von dem lange so einsamen Bett mit jetzt zwei Garnituren Bettzeug, von zwei nebeneinanderstehenden Weingläsern des Vorabends, von den zwei Handtüchern auf dem Doppel-Handtuchhalter (der seit drei Jahren auf seinen Doppeleinsatz wartete). Und ich ertappte mich dabei, immer wieder vergleichen zu müssen zwischen dem Was-wäre-wenn auf den Fotos und den gemeinsamen Minuten mit diesem Mann, der so vieles mit mir teilte, aber dennoch nicht richtig auftaute und manchmal merkwürdig fremd wirkte. Er ließ sich viel gefallen, war freundlich und liebevoll, aber blieb doch irgendwie verschlossen. Wir besuchten gemeinsam die Grüne Woche in Berlin, wo ich die Gelegenheit nutzte, ihn mehreren Freunden von mir vorzustellen, und die Rückmeldung war überwältigend positiv. Er konnte sich mit allen diesen fremden Menschen unterhalten und mein bester Freund erklärte mir am Ende, er habe das Gefühl gehabt, wir seien ein ganz normales Paar. Aber wir waren alles andere als das.
Dann der Schock: Er wollte plötzlich umziehen. Hinein nach Aachen, in die Großstadt, unter Menschen. Ein belebtes Viertel, wo er einfacher in Kontakt käme. Er schickte mir den Grundriss einer absurd guten Wohnung, deren obere „exklusive private Wohn-Etage“ alleine größer war als meine Berliner Wohnung insgesamt. Und fragte mich um Rat bei der Einrichtung. Schrieb mir begeistert, er habe ein Doppelbett gekauft, zukünftigen Herrenbesuch antizipierend. Wollte mir alles zeigen, wenn er das nächste Mal nach Berlin käme. Stattdessen bekam er einen Hörsturz und sagte die Reise ab und verwies auf die strikte Ruhe, die ihm ärztlich verordnet sei. Und ich saß verzweifelt in Berlin und wusste nicht, wie es jetzt weitergehen sollte. Würde ich ihn jetzt schleichend wieder verlieren? Eigenartigerweise schickte er mir noch ein Selfie von sich, auf dem er nicht sein gewöhnliches einstudiertes Auf-Kommando-Lächeln zeigte, sondern niedergeschlagen in die Kamera blickte. Ich glaube, hier sah ich zum ersten Mal den Menschen hinter dem Menschen. Und ich verstand, dass er mich wirklich vermisste und was ihm die gemeinsamen Wochenenden offenbar bedeuteten. Deine Chance, dachte ich. Also packte ich in Windeseile ein Päckchen (die Post hatte damals praktischerweise Pluspakete in Regenbogenfarben…) mit Schokolade, guten (schwulen) Romanen und mit selbstgemachtem Popcorn und die Post machte alles richtig, denn keine 20 Stunden später hielt David begeistert mein Paket in den Händen. Der Punkt ging an mich. Am kommenden Wochenende konnte er zwar noch immer nicht reisen, aber ich konnte. Und bemühte mich nach Kräften um eine schöne gemeinsame Zeit, zog einen ganzen Karton Wein und eine Pfanne aus meinem Koffer und wir lagen in der Abenddämmerung auf dem Sofa auf seinem Balkon. Alles war eigentlich wie immer. Nur eins war diesmal anders: Als er mich am Sonntag zum Aachener Bahnhof fuhr, sagte er, während er aus der Tiefgarage fuhr: „Das Thema Sparringpartnerschaft können wir jetzt wohl ad acta legen. Ich werde dich von jetzt an als meinen Freund vorstellen“. Und am Gleis angekommen, sah er sich kurz in alle Richtungen um, sammelte kurz Mut und küsste mich.
Das mit dem Sex haben wir auch im Folgenden nicht richtig hinbekommen. Wir lasen beide viel dazu und stellten fest, dass wir über die Jahre des Singledaseins und Pornokonsums zu abgestumpft waren, sodass normale sexuelle Empfindungen schwierig werden würden. Überhaupt erfuhr ich, dass im Verbogenen eine ganze Generation von jungen Leuten, vor allem Männern, heranwächst, deren Hirne durch den ultimativen und leicht verfügbaren Pornoreiz zu abgestumpft sind, dass schon fast von einer Epidemie gesprochen werden muss. Es ist wie wenn man lange Drogen konsumiert und alle sonstigen Reize im Leben belanglos werden. Es macht nicht Klick im Hirn, die Intimität mit dem Partner fühlt sich komisch und langweilig an. Wir können uns zwar gegenseitig befriedigen, aber einen großen Platz in unserem Leben hat der Sex entgegen aller schwulen Klischees nicht bekommen. Ich musste ein Vierteljahr völlige sexuelle Enthaltsamkeit leben, ehe ich physisch auf meinen Freund reagieren konnte. Aus dem Kontakt mit anderen schwulen AB weiß ich, dass dies ein gerade bei uns Spätzündern ein größeres Problem ist, da die Pornografie im Leben sehr viel kompensiert hat.
Auf unser Zusammenkommen folgte über ein Jahr Fernbeziehung. Seine neue Wohnung in Aachen bezog David wie geplant und ich richtete sie für ihn ein. Beim großen Doppelbett durfte ich meine Präferenz für eine Kopfkissenstärke angeben. Wir verbrachten viel Zeit in dieser Wohnung und ich lernte Aachen und gleich auch noch mal Berlin ganz neu kennen. Mein sonstiges Leben kam weitgehend zum Erliegen, da ich keine „freien“ Wochenenden mehr hatte. All die Aktivitäten, mit denen ich die großen Lücken in meinem Leben gefüllt hatte, waren plötzlich gegenstandslos oder standen sogar im Weg. Stattdessen gab es da eigentlich nur noch diesen David in meinem Leben, und plötzlich hatte ich genau das: ein Leben. Wir reisten durch Europa (es waren die ersten richtigen Urlaube meines Lebens, er zahlte), gingen ins Kino, kochten und aßen bis zum Umfallen, er machte meinen Fachanwaltslehrgang in Bonn mit, ich einen weiteren Hörsturz bei ihm. Mein Vater nahm ihn herzlich auf und rief mich am Ende noch mal an, um mir seine Begeisterung mitzuteilen. Meine Mutter war überfordert mit diesem anderen Mann, den ich an ihren Tisch brachte. Und wir beide wuchsen allmählich zusammen, wurden zwei Teile eines Ganzen und litten immens darunter, Sonntag für Sonntag Abschied voneinander nehmen zu müssen. Was anfangs gut gewesen war, um sich sammeln und sortieren zu können und auch für die Sicherheit, notfalls immer wieder fliehen zu können (was wir aber niemals mussten), wurde zu einer unerträglichen Last. Die langen Fahrten zum Flughafen Tegel am Sonntag Abend, von denen ich dann alleine wieder in meine leere Wohnung zurückkehrte, sind noch immer eine furchtbare Erinnerung. Und die vielen langen Zugfahrten nach Aachen, bei denen ich obendrein meistens noch arbeiten musste, ebenfalls. Als wir uns einmal aus logistischen Gründen gleich zwei Wochenenden nicht sehen konnten, mussten wir mehrere Krisentelefonate führen. Es ging nicht mehr ohne den Anderen.
Das alles wollten wir so irgendwann nicht mehr. Deshalb gingen wir und vor allem ich einen Schritt weiter: Im Spätsommer 2018 verließ ich Berlin und alles, was ich mir dort aufgebaut hatte und zog ins kleine Aachen, zunächst in seine Wohnung und dann wir beide in einem gemeinsame. Wir suchten Wandfarben aus, renovierten die Balkonmöbel und bauten eine Küche nach unseren Vorstellungen. Wir kauften ein neues Sofa, groß genug für uns beide und einigten uns darauf, wessen Fernseher wir behalten wollten. Wir lebten auf einer Baustelle. Es wurde alles perfekt. Auf einer Flugreise vor einem Jahr gerieten wir in Turbulenzen und David fragte mich, was wir machen, wenn das Flugzeug jetzt abstürzt. Und ich sagte: Die Augen schließen, uns bei der Hand halten und dankbar für die schönste Zeit unseres Lebens sein.
Und das ist sie bis heute, jeden Tag immer noch ein bisschen mehr. Die vielen Jahre als Erwachsener ohne Partner sind eine graue Erinnerung, die ich nicht gerne hervorhole. Ich spüre sie gelegentlich, wenn ich alleine in der Wohnung bin, weil David wieder irgendwo auf Geschäftsreise auf der anderen Seite des Planeten ist. Aber das ist zum Glück der Ausnahmefall. Wenn ich jetzt von der Arbeit nach Hause komme, ist da meistens jemand, der auf mich wartet oder der laut „Schatz, ich bin zuhause“ ruft, wenn er mal später kommt. Der Angst um mich hat, wenn ich mich einmal an eine Risiko-Sportart heranwage. Der sich beschwert, wenn meine Socken rumliegen (seine liegen auch rum!). Wenn ich die Küche verwüste, ist da jemand, der sie morgens heimlich aufräumt und mir dann strahlend einen Kaffee ans Bett bringt. Da ist jemand, der bei den schönsten und spannendsten Filmszenen nach fünf Minuten kommentarlos in meinen Armen einschläft. Jemand, mit dem ich mich um das letzte Stück Schokolade streite. Dessen Unterhosen ich wasche. Jemand, mit dem ich schon zwei Jahre wunderbare Erinnerungen teile und viele davon als Fotos an unsere Wände gehängt habe. Jemand, der ein altes Päckchen in Regenbogenfarben aufbewahrt, auf dem als Absender noch meine alte Berliner Adresse steht.
In einer Schwulenbar waren wir bis heute nicht. Ein paar Wochen nach unserem Umzug kniete David stattdessen mit einem Ring vor mir, der mir viel zu groß war und den wir zum Glück noch umgetauscht bekamen. Vor wenigen Wochen haben wir in kleinem Rahmen geheiratet. Unser Hochzeitsfotograf (zufälligerweise schwul und schon Jahrzehnte in fester Beziehung) hatte feuchte Augen, als wir ihm im Vorfeld unsere Geschichte erzählt haben. Unser Hochzeitsflorist (zufälligerweise auch schwul und schon zu lange Single) hat die Fotos unserer Blumenanstecker an unseren Revers mehrfach wieder hervorgeholt und in sozialen Medien gepostet. Wir haben irgendwie unser Glück gefunden, sind in unserem Leben angekommen und haben uns unsere eigene kleine Selbstverständlichkeit geschaffen, die rückblickend auf die vielen einsamen Jahre immer noch ein Wunder sind. Wir sind glücklich wie wir es noch nie waren. Und das mit dem Sex kriegen wir bestimmt auch noch irgendwann hin.
Was ich noch allen raten möchte, denen es so geht wie mir bis vor zwei Jahren:
David und ich hatten gewiss unfassbar großes Glück, Schicksal, Fügung, wie auch immer. Aber wir haben auch manche Lektion zusammen gelernt.
Sucht euch über Internetforen, Blogs oder den Zufall einen anderen Absolute Beginner eures begehrten Geschlechts und Alters. Lernt euch kennen, ohne Hintergedanken. Öffnet euch zueinander. Gebt euch die Möglichkeiten für Nähe, ohne Erwartungen oder Zwänge zu schüren. Helft euch, sanft die Fühler zu einem anderen Menschen auszustrecken. Und dann schaut, wo es hinführt. Vor solchen Kontakten solltet ihr keine Angst haben müssen. Es ist enorm hilfreich, wenn zwei Menschen auf derselben Stufe stehen und bei denen keiner dem anderen überlegen ist (oder höchstens ein bisschen, um dann die Führung zu übernehmen). Ob es mit diesem speziellen Menschen am Ende was wird, ist nicht so entscheidend wie die Erfahrungen, die ihr macht, vor allem über euch selbst. Saugt diese Erfahrungen in euch auf. Zieht Selbstbewusstsein daraus, seht euch Fortschritte machen. Es ist bereichernd, in jeder Hinsicht! Wenn ihr mehr darüber erfahren wollt, wie ihr charakterlich eigentlich tickt und welche Art Partner ihr wahrscheinlich sucht, empfehle ich euch allen Ernstes Persönlichkeitstests wie den Myers-Briggs-Test (z.B. 16personalities.com/de, unbedingt auch die ausführlichen englischsprachigen Seiten anschauen!). Mir hat das zum Beispiel geholfen, anzunehmen wie ich bin; David hat Augen gemacht, als er seine Auswertung sah.
Und wenn ihr Männer seid und wie David und ich zu viele Pornos konsumiert habt, informiert euch über Pornosucht und den „reboot“, um davon loszukommen. Auch dazu gibt es inzwischen Internetforen. Es wird Arbeit, aber es lohnt sich!