Ich lebe in einer kleinen Stadt in Schleswig-Holstein und unterscheide mich auf den ersten Blick nur wenig von anderen. Ich sehe normal aus, bin wahrscheinlich normal intelligent und gehe einer normalen Arbeit nach; meine Besonderheit ist eigentlich „nur“ das Leben als ABine.
Wo fängt meine Geschichte an? Wo liegen die Wurzeln des AB-Seins? Ich war schon früh eine Außenseiterin, nicht zuletzt bedingt durch eine katastrophale Ungeschicklichkeit. Zwei linke Hände, zwei linke Füße. Dadurch kamen viele Aktivitäten nicht in Frage, die für die meisten Leute alltäglich sind. Radfahren, Tanzen, Ballspielen, Schlittschuhlaufen – alles fiel flach. Die einzige mit einer 4 oder 5 in Sport, später die einzige, die zwei Mal durch die Fahrprüfung rasselte. Natürlich blieb ich beim leidigen Mannschaftenwählen immer übrig, nahm es aber nicht persönlich. Ausgelacht wurde ich glücklicherweise nur sehr selten. Aber ich konnte eben kaum etwas wirklich mitmachen, und das schränkte die Kontaktmöglichkeiten erheblich ein. Also blieb eigentlich nur ein Hobby übrig – nämlich zu Hause sitzen und lesen!
Wer Alltägliches nicht schafft, landet natürlich außen vor. Aber ganz so einfach ist es nicht; ich war nämlich – zumindest als Kind – durchaus nicht unbeliebt. Ganz im Gegenteil, ich hatte viele Freundinnen, meine Mitschülerinnen rannten uns förmlich die Bude ein; es war mir manchmal sogar lästig. Erst später kam mir der Gedanke, dass das Interesse anderer Kinder vielleicht gar nicht mir galt, sondern eher meinen vielen Spielsachen – und der Tatsache, dass meine Eltern so unkompliziert waren und nie etwas verboten haben. Es war gemütlich bei uns. Als das „Spiel-Alter“ vorbei war, endeten auch die Besucherströme. Es ebbte einfach ab, undramatisch, ohne Feindschaft oder Streitigkeiten. Ich war nach wie vor akzeptiert in meiner Klasse, wir kannten uns ja alle schon ewig, gehasst hat mich sicher keiner. Meine beste Freundin, I., hatte ich immer noch und war zufrieden. Der Gedanke an einen Freund tauchte gelegentlich auf, spielte aber noch keine große Rolle. Natürlich las ich die unvermeidlichen Jugendzeitschriften, in denen gelegentlich Teenager die Befürchtung äußerten, nie einen Freund oder eine Freundin zu finden. Die Antwort lautete immer, es würde irgendwann passieren. Es wäre gut gewesen, damals schon zu erfahren, dass es sehr wohl Menschen gibt, die nie jemanden finden. Darauf vorbereitet zu sein, hätte mein Leben leichter gemacht.
Ein Wendepunkt in meinem Leben war die Auflösung der Klassen in der Oberstufe. Damit änderte sich alles. I. und ich waren vom ersten Tag an regelrecht verfemt, unsere neuen Mitschüler taten so, als gäbe es uns nicht, sie sprachen kein Wort mit uns, und die „alten“ machten es genauso. Was sie gegen uns hatten, habe ich bis heute nicht herausgefunden. Wir waren natürlich nicht perfekt, aber wer ist das schon? „Die kennen euch eben nicht“, sagte einmal ein Mädchen „von früher“, als ich sie darauf ansprach. Aber was kann man gegen jemanden haben, den man nicht kennt? Und warum machten die Leute, die wir seit dem Kindergarten kannten, dabei mit? War ihnen in den Sommerferien plötzlich eingefallen, dass sie uns nicht mochten? Vielleicht spielte es eine Rolle, dass ein anderes Mädchen nach der 10. Klasse die Schule verlassen hatte, nachdem sie jahrelang gemobbt worden war. Das schwarze Schaf war weg, die Rolle des Sündenbocks musste neu besetzt werden, und da fiel die Wahl auf I. und mich. Das Problem am Wie-Luft-Behandelt-Werden war, dass man sich dagegen nicht verteidigen konnte. Gegen Prügel und Beschimpfungen hätte man sich zur Wehr setzen können, aber gegen „nichts“ gab es eben auch nichts zu tun. Es blieb so bis zum Abitur. Immer wieder wurden wir von gemeinsamen Aktivitäten ausgeschlossen (man sagte uns einfach nicht Bescheid), und eine unserer wenigen Freundinnen feierte sogar ihren Geburtstag zweimal, einmal mit der Schickeria und einmal mit uns – eine solche Schande war es, sich mit uns abzugeben. An einen Freund war in einer derartigen Atmosphäre nicht zu denken; ein Junge, der sich für I. oder mich interessiert hätte, wäre in Schwierigkeiten gekommen.
Wie ging es weiter? Nachdem ich ungeküsst Abitur gemacht hatte, hoffte ich, dass an der Uni alles anders werden würde. Leider kam es nicht dazu. Ich lernte viele nette Leute kennen, hauste in einem Wohnheim mit lustigen Mitbewohnern und fand eine Handvoll Freundinnen, darunter auch zwei ABinen, und machte eine Menge interessanter Sachen, aber mit einem Freund klappte es nicht. In den ersten Semestern herrschte eine regelrechte Paarungszeit, plötzlich hatten fast alle Kommilitoninnen einen Freund, nur ich ging immer leer aus. Oft genug war ich wütend und neidisch und fragte mich: Was haben andere Frauen, das ich nicht habe? Wieso findet diese blöde Kuh jemanden und ich nicht? Aber manchmal konnte ich auch über die Situation lachen, vor allem mit den beiden anderen ABinen, wenn wir uns etwa ausmalten, dass wir unseren ersten Freund vielleicht im Altenheim haben würden!
Natürlich begegnete mir dann und wann der eine oder andere interessante Mann, einen bestimmten „Typ“ hatte (und habe) ich übrigens nicht. Ich war schon an sehr verschiedenen Leuten interessiert, aber es war eben nie gegenseitig. Jedenfalls ist nie jemand auf mich zugekommen, und selber den ersten Schritt machen? Das habe ich mich nur selten getraut, das Ergebnis waren ein paar Dates, bei denen aber nie etwas herausgekommen ist. Als die ersten Gleichaltrigen heirateten, wurde es mir unbehaglich. Langsam dämmerte mir, dass ich nicht einfach nur etwas später dran war. Natürlich wunderten sich manchmal Leute, dass eine anscheinend normale nette Frau keinen Freund hatte, und es hagelte auch Ratschläge, darunter höchst widersprüchliche wie „Wenn du nicht daran glaubst, klappt es natürlich nicht“ und „Meistens kommt die Liebe dann, wenn man nicht mehr damit rechnet“.
Mit 25 war ich des Themas überdrüssig und wollte es zu den Akten legen, mir sozusagen eine „Deadline“ setzen, doch es kam etwas dazwischen – der Tod meiner Mutter. Diesen schrecklichen Verlust zu verkraften und mich gleichzeitig mit dem Gedanken anzufreunden, dass ich für den Rest meines Lebens allein bleibe, war zu viel auf einmal, und so redete ich mir ein, der Richtige könne noch kommen.
Ich machte meinen Abschluss und begann zu arbeiten. Der 30. Geburtstag kam und ging, die Situation blieb unverändert. Meine letzte Verabredung hatte ich mit 32, das ist fast 10 Jahre her. Ich stellte fest, dass die ewige Beschäftigung mit dem alten Thema zu nichts führte. Das Leben ist kurz – soll man es wirklich mit einer Sache verbringen, die nicht klappt?
Mittlerweile bin ich seit vielen Jahren in der gleichen Firma tätig und arbeite in einem kleinen Team. Eine nette, lustige Gruppe. Als wir uns neulich gegenseitig „Feedback“ geben mussten, beschrieben meine Kollegen mich so: unkompliziert, witzig, nie beleidigt, immer guter Laune, zuverlässig und loyal. Hier bin ich keine Außenseiterin. Im Urlaub fahre ich meistens ins Ausland zu einem Sprachkurs – eine gute Methode, um nicht allein im Hotel zu hocken, man lernt etwas und kommt unter Menschen. Freizeitgestaltung ist kein Problem, ich habe einen sehr zeitintensiven Nebenjob (ich übersetze Bücher) und zum Glück nur wenig Zeit zum Grübeln. Am wichtigsten ist für mich die Erkenntnis, dass nicht ALLES schlecht ist und das Leben viele schöne Seiten hat. Das Beste aus der Situation machen, die unbestreitbaren Vorteile des Alleinseins nutzen – das scheint mir eine sinnvolle Strategie zu sein. Ich hatte tolle Eltern, habe gute Kollegen, mit brotlosen Fächern Arbeit gefunden und einen sehr interessanten Nebenjob – also reichlich Grund zur Dankbarkeit. Das sage ich mir oft. Zufriedenheit ist eine Frage des Blickwinkels, und wer ewig unzufrieden ist, wird wahrscheinlich auch einen Partner bald vergraulen…
Heute denke ich nicht mehr ständig an das AB-Sein, sondern eher „phasenweise“ – das Thema wird manchmal wieder „hochgespült“. So etwa, als vor anderthalb Jahren (kurz vor meinem 40. Geburtstag) mein Vater starb. Mit ihm verlor ich nicht „nur“ meinen Vater, sondern auch den letzten direkten Angehörigen, mein Elternhaus und die letzte Verbindung zu der Stadt, in der ich aufgewachsen bin. Er hinterließ ein Vakuum, das nicht zu beschreiben ist. Die Vergangenheit brach komplett weg, als würde hinter mir eine Brücke einstürzen. Ein Hauch von Bitterkeit blieb nicht aus – wenn man sowieso schon wenig Kontakte hat, warum müssen dann auch noch die wichtigsten Menschen früh gehen? Aber Hadern mit dem Schicksal bringt nicht weiter. Durch den Tod meiner Eltern fühle ich mich oft älter als Gleichaltrige, durch das AB-Sein dagegen jünger – eine sonderbare Mischung aus Teenager und alter Frau, aber nicht unbedingt wie jemand in der Lebensmitte. Manchmal ist es merkwürdig. Wenn die „kleine“ Cousine ihren 10. Hochzeitstag feiert und man selbst nicht weiß, wie ein Kuss auf den Mund ist. Wenn Gleichaltrige sich scheiden lassen, wieder heiraten oder pubertierende Kinder haben. Oder wenn ich daran denke, wieviel in meinem Leben passiert ist, wieviel ich erlebt habe und was sich alles geändert hat – nur das AB-Sein ist immer gleich geblieben, so wie die Schuhgröße, die Augenfarbe und der Geburtsort.
Mich zu „outen“, war nie ein Problem. Natürlich hänge ich mir kein Schild um den Hals, ich erzähle es einfach dann, wenn es angemessen erscheint. Schockiert war noch nie jemand, nur überrascht. Die Leute, die Bescheid wissen, finden mein AB-Sein so wichtig wie die Tatsache, dass ich eine Brille trage – nämlich gar nicht. Auf ein AB-Forum bin ich erst vor kurzem gestoßen. Was es mir gebracht hat? Ich fühle mich dort „weniger anders“. Weniger exotisch. Was mir sofort auffiel: Alle User schrieben fehlerfrei und drückten sich gewählt aus – ein großer Unterschied zu anderen Internet-Foren. Dass ich nicht die einzige ABine bin, dass die meisten ABs mehr oder weniger normale Zeitgenossen und keineswegs schräge Vögel sind, war mir schon lange vorher klar; sehr überrascht haben mich dagegen die „Erfolgsmeldungen“. Dass es doch noch klappen kann, hatte ich nicht erwartet. Ob es überhaupt wünschenswert ist, steht auf einem anderen Blatt. Eine so große Veränderung in fortgeschrittenem Alter – will man das eigentlich noch? Ich bin mir gar nicht mehr so sicher. Aber dass es geht und man anscheinend kein „Zeitfenster“ einhalten muss, hat doch etwas sehr Tröstliches!