Rezension und Verschenk-Aktion: Jana, 39, ungeküsst

Es ist über zehn Jahre her, seit ich mich für mein Buch „Und wer küsst mich? Absolute Beginners“ (Ch. Links Verlag, 2012) mit den Erfahrungswelten von Erwachsenen beschäftigt habe, die noch nie Sex oder eine Beziehung gehabt haben. In letzter Zeit habe ich mich öfter gefragt, ob sich die Erlebnisse der Betroffenen wohl in Zeiten von Dating Apps und sozialen Netzwerken als zusätzlichem Ort, an dem man Mobbing erleben oder sich auch schlicht anders als andere fühlen kann, sehr verändert haben. Und mir darum neugierig das Buch „Jana, 39, ungeküsst“ (Knaur Verlag, 2023) von Jana Crämer besorgt, das im Moment überall in den Medien ist. Mal eine neuere Perspektive auf das Thema.

Eine Antwort auf meine ursprüngliche Frage gibt das Buch nicht wirklich, denn Jana ist eben auch schon 39 und in der prägenden Zeit der Kindheit und Jugend scheinen digitale Medien noch keine Rolle für sie gespielt zu haben. Aber das macht nichts, interessant ist es trotzdem. Es liest sich sehr flüssig und dennoch nicht seicht. Nur manchmal nervt es etwas, dass inflationär irgendwelche Nebensächlichkeiten in die Sätze eingeflochten werden, die wohl dazu führen sollen, dass man sich als Leser*in alles besonders lebendig vorstellen kann. Aber es spielt einfach keine Rolle, ob nun die Gesichtsmaske, die Frau Crämer trägt, als sie sich an diese oder jene Szene aus ihrer Vergangenheit erinnert, schon zu lange drauf war und zu fest angetrocknet ist. Im Gegenteil, es lenkt eher ab.

Unsichtbar und introvertiert

Ich weiß ziemlich genau, was die meisten Interviewpartner aus meinem Buch zu der Geschichte von Jana Crämer sagen würden. Denn ihnen war es immer wichtig zu betonen, dass man auch ohne einen offensichtlichen Grund wie starkes Übergewicht in eine Situation als „Absolute Beginner“, wie sie sich selber nennen, hineingeraten kann. Janas Geschichte wäre in ihren Augen daher eher kein repräsentativer Lebenslauf für die Community der „Absolute Beginners“, die eher unsichtbar, weil introvertiert, durchs Leben gehen.

Gemeinsamkeiten gibt es aber auch: Zum Beispiel das Erleben unnatürlich enger Freundschaften, teils sogar mit viel Körperkontakt (z.B. aneinander gekuschelt fernsehen), aus denen aber nie mehr wird. „Auf die Kumpelschiene geraten“, heißt das bei meinen Protagonist*innen. Jana hat da auch so ein Erlebnis mit Tim, der sie als Kummerkasten ausnutzt, bis er sie irgendwann eiskalt abserviert, weil das Gerücht entsteht, die beiden seien ein Paar.

Wir alle leiden aneinander

Tief getroffen hat mich an dieser und vielen anderen Stellen im Buch die Erkenntnis, wie sehr die allermeisten Menschen in der Jugend leiden, und bis ins Erwachsenenalter hinein aneinander leiden. Im Übrigen auch die hübschen und die besten Freundinnen der Klassenbeliebtesten. Erst kürzlich erzählte mir eine junge Frau, die man gemäß ihrer Instagram-Fotos nicht anders als als „Sexbombe“ bezeichnen kann, wie einsam sie sich fühlt, weil kein junger Mann sie als ernsthafte Beziehungspartnerin in Betracht zieht und keine Frau ihr genug über den Weg traut, um ihre Freundin zu sein.

Und auf einem Klassentreffen sprach ich mit besagter bester Freundin der Klassenbeliebtesten, die alle anderen heimlich fast noch mehr beneideten als die Beliebteste, weil sie überall dabei sein konnte, ohne den Druck, stets die Tollste sein zu müssen. Doch auch die beste Freundin, die Zweitbeliebteste, erzählte über ihre Einsamkeit, die sie umso mehr empfunden habe, weil sie permanent unmittelbar miterleben musste, wie sehr ein Mensch angebetet werden kann, ohne selbst dieser Mensch zu sein.

Glückspilze, Durschnittstypen und Außenseiter sind sich ähnlich

Es geht nicht darum zu beantworten, wer nun mehr gelitten hat: die Sexbombe, die beste Freundin der Klassenbeliebtesten oder das übergewichtige Mobbingopfer. Sondern darum zu erkennen, wie ähnlich wir Menschen uns tief drinnen sind, auch wenn wir uns nach außen hin in Glückspilze, Durchschnittstypen und Außenseiter unterteilen. Wenn Jana Crämer zum Beispiel schreibt, dass sie eigentlich jede Person, die nur irgendwie Interesse an ihr hatte, auf einen Sockel gehoben und das Negative ausgeblendet hat, muss ich sagen: Auch das ist, genau wie die Einsamkeit, weit verbreitet. Jeder möchte geliebt werden und im Laufe eines gesamten Lebens fühlt sich jede*r den größeren Teil der Zeit eher ungeliebt als geliebt und tendiert dazu, Seelenverwandtschaft in Menschen zu vermuten, die einfach nur mal ganz nett zu einem sind. Nicht umsonst gibt es bei Instagram oft diese Lebensweisheiten zu lesen wie: „Aufmerksamkeit ist nicht Liebe, Anschauen ist nicht Flirten, …“

Wenn Jana beschreibt, wie sie sich bis heute detailreich an abwertende Dinge erinnert, die irgendjemand mal zu ihr gesagt hat, dann kann ich sagen: Jede meiner Freundinnen kann mindestens einen, meist mehrere negative Sätze zitieren, die ihr Selbstbild oder ihr Verhältnis zu ihrem Körper drastisch geprägt haben. Obwohl die Sätze vielleicht nur nebenbei fallengelassen wurden oder von einem Menschen im Freibad, den man gar nicht kannte.

Nicht übergewichtig, aber keinen Sex mehr in der Ehe

Jana Crämer selbst zitiert in ihrem Buch „Jana, 39, ungeküsst“ Briefe und Onlinenachrichten, die sie als Influencerin von fremden Menschen bekommt, und in denen ihr diese Menschen ihr Herz ausschütten und ihre Geschichten erzählen, obwohl sie überhaupt nichts mit Janas Geschichte zu tun haben. Die Menschen sind oft weder übergewichtig, noch Absolute Beginners, aber allein die Tatsache, dass da jemand ist, der von seiner Einsamkeit und seinem Kampf mit sich selber erzählt, inspiriert sie offenbar dazu, einen Hilferuf vom Stapel zu lassen: Bitte sieh her, ich bin auch einsam, ich kämpfe auch! Die eine hat keinen Sex mehr in ihrer Ehe, die nächste treibt wieder etwas anderes um.

Insofern ist Janas Buch ein Buch für uns alle. Und ja, es ist ein Mutmachbuch für alle, uns unseren inneren Dämonen zu stellen, die Verletzungen aus der Kindheit und Jugend zu verarbeiten und nach vorne zu schauen. Jana Crämer schreibt, dass eine schlimme Kindheit nicht als Entschuldigung dafür gelten darf, nichts aus seinem Leben zu machen. Manchmal möchte man ihr beim Lesen ihrer superoptimistischen „Ich hab’s geschafft“-Zeilen allerdings sagen: Du, auch Dein aktueller Zustand ist nur eine Momentaufnahme im Leben. Die Dämonen können Dich auch wieder einholen. Es ist ein permanenter Kampf.

Eine imaginäre Reise zum „Inneren Kind“

Ich habe selbst auch ein Buch geschrieben, mit dem ich eine sehr schwere Phase im Leben meiner Familie verarbeitet habe: „Kindheit im Schatten: Wenn Eltern krank sind und Kinder stark sein müssen“ (Ch. Links Verlag, 2016). Sowas ist eine super Sache, um das Erlebte zu sortieren und dann erstmal nach vorne zu schauen. Jana Crämer wählt zu diesem Zweck einen erzählerischen Trick, der manchmal für die Leser*innen etwas verwirrend, aber durchaus auch erhellend ist: Sie schickt ihr aktuelles Ich auf eine imaginäre Reise zu ihrem „Inneren Kind“, um ihm in Situationen, in denen sie in der Vergangenheit besonders gelitten hat und Hilfe gebraucht hätte, beizustehen.

Die 39-jährige und die Teenager-Jana führen dann Gespräche und beruhigen sich zusammen wieder. Das ist eine Übung, die ich auch aus der Psychotherapie kenne. Fragen wie: „Was hättest Du in dieser Situation an Beistand gebraucht?“ lösen die Situation im Nachhinein auf. Wir malen uns aus, wie die Situation besser hätte ausgehen können als es damals der Fall war, und machen dann unseren Frieden damit. Das ist eine super Übung, das tut wirklich gut. Aber trotzdem bedeutet das nicht, dass wir mit dem Thema ein für allemal durch sind.

Erleben, verarbeiten, erleben, verarbeiten

Wenn ich sieben Jahre nach der Veröffentlichung von „Kindheit im Schatten“ zurückblicke, von dem ich auch dachte, es würde einen Schlusspunkt setzen, sehe ich, wie viele Ups und Downs es danach noch gegeben hat. In den verschiedensten aktuellen Situationen kehrt das Erlebte zurück, bringt neue Gefühle mit sich, und man muss es erneut und nochmal aus anderem Blickwinkel integrieren, um weitermachen zu können. Zumindest kann man aber sagen: Es wird mit jedem Mal ein wenig einfacher. Erleben, verarbeiten, erleben, verarbeiten – nichts anderes ist letztendlich „Das Leben“.

 

Hat Dir meine Rezension gefallen? Teilst Du meine Gedanken oder siehst Du das alles ganz anders? Schreib mir eine E-Mail! Unter allen Einsender*innen bis 31.5.23 verschenke ich mein Rezensionsexemplar von „Jana, 39, ungeküsst“. Es wurde einmal gelesen, aber pfleglich behandelt!